Die Hütte im Wald
Ich legte lächelnd den Telefonhörer auf die Station zurück, erhöhte die Lautstärke des Radios und wollte mit meiner Hausarbeit fortfahren, was mir aber überhaupt nicht gelang. Das Gespräch eben mit meiner Cousine Anja klang wie ein Echo in mir nach und so kam es, dass meine Gedanken für einen Augenblick in die Vergangenheit abtauchten.
Vor fünfzehn Jahren war Anja von Zuhause fortgegangen. „Ich will in Amerika studieren und mein Glück suchen“, hatte sie der gesamten Verwandtschaft erklärt. Und weil ihre Eltern im Gegensatz zu den meinen recht wohlhabend waren, spielte Geld keine Rolle.
Etwa ein Jahr nach Anjas Auswanderung, die ich als sehr schmerzhaft empfand, weil wir schon als Kinder unzertrennlich waren, hatte ich meine große Liebe kennengelernt und sie schon wenig später geheiratet. Ein weiterer Abschied, und zwar der von meiner rheinischen Heimat Köln, stand mir bevor, als Tom von seiner Firma in den Süden des Schwarzwaldes versetzt wurde. Schneller aber als erwartet hatte ich mich in Singen heimisch gefühlt und schon drei Jahre später waren wir in eine etwas ländlichere Gegend, nach Steißlingen, einem knapp 5000-Seelen-Ort, gezogen. Dort lebten wir sehr glücklich, bis Tom vor drei Jahren verunglückte, als er sich nach Dienstschluss auf der Heimfahrt befand. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen und war mit ihm zusammen gestoßen. Beide starben noch am Unfallort. Für mich war damals eine Welt zusammengebrochen und als ich dann auch noch – gerade im vierten Monat schwanger - mein Baby verlor, glaubte ich, niemals wieder glücklich werden zu können.
Ich schreckte aus meinen Gedanken auf, als es abermals klingelte, diesmal an der Haustür. Es war die Post, die ich achtlos auf den Küchentisch warf und darüber nachdachte, was ich Anja und ihrem Bräutigam wohl schenken könnte. Ich freute mich schon riesig darauf, meine Cousine endlich wiederzusehen, so dass ich gleich eine Liste von Artikeln anlegte, die mir als passendes Präsent einfielen. Anja war bereits seit mehr als vier Wochen aus Amerika zurück, wie sie mir am Telefon berichtet hatte: „Gerd ist Arzt. Er hat drüben einige Semester studiert und anschließend ein paar Jahre in einem Hospital in New York gearbeitet. Nun übernimmt er die Praxis seines Vaters in Bonn.“
Natürlich freute ich mich gewaltig auf Anja. So wie ich mich kannte, würden wir uns in Zukunft sicher wieder öfter sehen. Die Hochzeit sollte Ende Juli stattfinden, also in genau sechs Wochen. Gleich morgen würde ich meinen Jahresurlaub für diesen Zeitraum beantragen.
Die Wartezeit verging wie im Fluge und am Abreisetag wanderte ich mindestens dreimal durch die Wohnung, um sicher zu sein, dass wirklich alle Fenster geschlossen und die Elektrogeräte ausgeschaltet waren. Ich überprüfte nochmals den Inhalt meiner Handtasche auf die wichtigsten Dinge: Geldbörse, Scheckkarte, Handy und die übers Internet bestellte Fahrkarte nebst Platzreservierung. Nichts fehlte.
Nachdem das Gepäck, ausreichend für etwa zwei Wochen, im Auto verstaut war, konnte es losgehen. Da mein Audi seine besten Tage längst hinter sich hatte, wollte ich keine weiten Strecken mehr damit fahren. Meine Freundin Eva, die am Stadtrand von Singen ein Haus besaß, hatte mir angeboten, meinen Wagen bei ihr unterzustellen. Eva selbst würde mich dann zum Bahnhof fahren.
So fuhr ich an diesem Tag nicht auf der stark befahrenen Umgehungsstraße nach Singen, sondern lenkte meinen Wagen durch den Ort und dann auf die Landstraße. Zu Evas Haus war dies die kürzere Strecke. So konnte ich Zeit sparen und musste nicht durch den ganzen Stadtverkehr.
Ich freute mich schon sehr auf die Zugfahrt nach Köln, das Wiedersehen mit meiner Mutter, dem Rest der Verwandtschaft und den Freunden, die ich bei der Gelegenheit ebenfalls besuchen wollte.
Es war eine ruhige Autofahrt, nur hin und wieder begegnete mir ein anderes Fahrzeug. Bis ich plötzlich auf ein Hindernis stieß.
„Auch das noch!“, dachte ich und fuhr näher heran. Das „Hindernis“ entpuppte sich als ein alter Leiterwagen, dessen Vorderrad gebrochen und der deshalb seitlich umgekippt war. Mitten auf der Strasse lagen nun Kartoffeln, Salat, Möhren und etliche andere Lebensmittel verstreut. Erst jetzt bemerkte ich die Frau, die sich mühte, all ihre verstreute Habe von der Straße zu räumen. Ich parkte am Straßenrand und stieg aus.
Ich ging auf die Frau zu und wollte sie gerade ansprechen, als diese sich mir zuwandte. Ich hätte das Alter der Frau keinesfalls schätzen können. Ihr Gesicht war faltig und die Wangen eingefallen. Das genaue Gegenteil davon bildeten ihre hellen, blauen Augen, die mich eindringlich, aber freundlich und voller jugendlicher Kraft anschauten.
„Sie schickt mir der Himmel“, begrüßte sie mich, „helfen Sie mir doch bitte, meine Einkäufe aufzusammeln und beiseite zu tragen.“
Ich sah auf meine Armbanduhr. In einer knappen Stunde fuhr mein Zug und zu Eva brauchte ich mindestens noch fünfzehn Minuten. Von dort aus bis zum Bahnhof ebenfalls weitere zehn. Aber ich konnte diese Frau auch nicht ihrem Schicksal überlassen und sagte freundlich: „Einen Augenblick habe ich schon Zeit, natürlich helfe ich Ihnen gerne.“
Ich machte mich auch sofort an die Arbeit und binnen weniger Minuten waren alle Teile sowie der defekte Leiterwagen von der Strasse geräumt.
Doch wie bekam das alte Mütterchen seine Einkäufe nach Hause? Fragte ich mich nun und holte mein Handy aus dem Auto. „Kann ich vielleicht jemanden anrufen, der Sie hier abholt?“, wollte ich wissen.
„Abholt? Nein, ich lebe allein und besitze weder Verwandte noch Freunde.“ Bei diesen Worten hatte sie mich etwas traurig angeschaut und ich verspürte Mitleid mit ihr. „Dann rufe ich ein Taxi, das Sie heimbringt. Ihr Wagen ist hin und die Lebensmittel verderben, wenn sie solange in der Sonne liegen bleiben.“
„Taxi? Wovon soll ich ein Taxi bezahlen?“, fragte die Alte. „Ich habe mein letztes Geld für die Vorräte ausgegeben. Bitte, könnten Sie mich nicht nach Hause fahren? Ist auch wirklich nicht mehr sehr weit. Mein Name ist übrigens Lore.“
„Ich bin Ariane“, sagte ich, weil ich glaubte, es ihr schuldig zu sein. Ich sah abermals auf meine Armbanduhr, allmählich wurde es knapp. Lore musste meine Unruhe gespürt haben, denn sie schaute mich durchdringend und irgendwie flehend an. „Bitte, junge Frau. Es ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen und die Sonne macht meinen müden Knochen auch zu schaffen.“
Ich bekam plötzlich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, Lore hier so ganz allein zurück zu lassen. Vielleicht wohnte sie ja wirklich nicht weit und ich kam doch noch rechtzeitig zu meinem Zug. Rasch belud ich mein Auto mit Lores Einkäufen und bat diese, einzusteigen. Die Frau lächelte mich dankbar an: „Das vergelte Ihnen Gott, meine Liebe.“ Ihre junggebliebenen Augen schauten mich dabei freundlich an. Auf Lores Anweisung hin bog ich etwa nach hundert Metern Fahrt rechts in einen Feldweg ein, der direkt in den Wald führte. „Noch ein Stück geradeaus, ist nicht mehr weit“, erklärte die Alte und es entging mir nicht, dass sie mich beobachtete.
„Hoffentlich ist es wirklich nicht mehr weit!“, dachte ich und fragte mich, wie diese dürre, zierliche, alte Person es überhaupt zu Fuß von der Stadt bis nach Hause hatte schaffen wollen. Es waren zwar nicht übermäßig schwere Lebensmittel, aber der Wagen hatte auch sein Gewicht.
„Ich habe sehr viel Kraft, auch wenn man es mir nicht ansieht“, ertönte plötzlich neben mir die Stimme der alten Frau. Ich erschrak, woher wusste Lore, was ich gerade gedacht hatte?
„Können Sie Gedanken lesen?“ fragte ich.
„Ich lese es in Ihrem Gesicht, junge Frau. Ich beobachte gerne andere Leute. Zwar komme ich nicht mehr so häufig mit ihnen zusammen, aber wenn doch, dann schaue ich den Menschen auch direkt in die Augen. Die Augen sind das Fenster zur Seele, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Ich verstand zwar nicht so ganz den Sinn dieser Worte, wollte diese Fahrt nur so schnell wie möglich hinter mich bringen. Der Zug wartete ganz bestimmt nicht auf mich. Und wenn diese Person Gedanken erraten konnte, müsste sie auch das „gelesen“ haben.
Endlich kam eine kleine Hütte in mein Blickfeld und ich atmete erleichtert auf. Nur noch wenige Minuten, und ich würde meinen Weg nach Singen fortsetzen können.
Kaum hatte ich angehalten, da stieg Lore auch schon aus und rief mir zu: „Ich gehe schon mal voraus und mach uns Licht. In der Hütte ist es ziemlich düster.“
Ich begann, die Lebensmittel ins Haus zu tragen und als Lores Einkäufe auf dem Küchentisch lagen, wollte ich mich von ihr verabschieden.
„Warten Sie bitte, ich möchte mich wenigstens noch bei Ihnen bedanken.“
„Aber das ist nicht notwendig, habe ich gerne gemacht.“
Das war wohl nicht die volle Wahrheit und ich hatte das Gefühl, als ob die Frau mir ansah, dass ich ein wenig log. Etwas schuldbewusst fügte ich hinzu: „Meine Zeit läuft mir davon. Ich will verreisen und mein Zug fährt schon in vierzig Minuten. Ich darf ihn nicht verpassen.“
„Was ist schon ein verpasster Zug? Dass Ihr jungen Leute alle so ruhelos seid, so gehetzt, verstehe ich wirklich nicht. Was ist schon Zeit? Euer ganzes Leben richtet Ihr nach Plänen, macht nichts Unüberlegtes, alles nur nach Terminen und Vereinbarungen. Wo bleibt Eure Spontanität?“
Ich schüttelte den Kopf. Die Frau redete, wie meine Oma immer gesprochen hatte, als sie noch lebte. Immer hatte sie ihren Kindern und Enkelkindern aus ihrer Kindheit und Jugendzeit erzählt; wie „anders“ es damals gewesen war im Gegensatz zu heute.
„Ihr könnt doch ohne Pläne, Termine usw. gar nicht mehr existieren. Ihr hetzt durchs Leben und erkennt dabei weder die Schönheit um Euch herum noch den wahren Sinn Eures Daseins. Ihr bestimmt irgendwann sogar noch Eure eigene Todeszeit.“
Ich wollte endlich gehen, doch als ich an der Tür ankam, hörte ich ein lautes Keuchen. Ich drehte mich erschrocken um und bemerkte, wie die alte Frau ihre Hände gegen die Brust presste und mit schwacher Stimme bat: „Bitte, holen Sie mir ein Glas Wasser.“
Ich war sofort bei ihr und konnte gerade noch verhindern, dass sie fiel. Sanft drückte ich sie auf einen Stuhl. Dann ging ich rasch zum Spülstein, nahm ein Glas von dem etwas schiefen Regal und suchte vergebens nach einem Wasserhahn.
„Sie müssen draußen am Brunnen Wasser holen, es gibt hier im Haus keine Leitungen.“ Lores Stimme klang belegt.
Ich tat, was sie mir sagte und reichte Lore kurz darauf das volle Glas. Diese nahm es mit zitternden Händen und trank gierig den Inhalt bis auf den letzten Tropfen aus. „Ich trinke einfach zu wenig, das weiß ich, und dazu noch der Fußmarsch und die Hitze. Nun gehen Sie, sonst fährt der Zug ohne Sie ab.“ Die alte Frau wollte gerade aufstehen, um mit dem Einräumen ihres Einkaufes zu beginnen, als sie sich, leicht schwankend, wieder auf den Stuhl zurücksinken ließ.
Sie sah in diesem Augenblick noch älter und gebrechlicher aus und ich war abermals über die Jugend dieser Augen verblüfft. Es ging der Frau nicht gut, das sah ich ihr an. Und plötzlich brachte ich es einfach nicht mehr übers Herz, Lore hier ihrem Schicksal zu überlassen. Mein Mitgefühl siegte.
Gut, dann würde sie eben am nächsten Tag fahren und über Nacht bei Eva bleiben. Einzig und allein meine Platzreservierung für den Wagen 49 würde verfallen, weil diese nur für den heutigen Zug Gültigkeit besaß. Ich holte meine Handtasche aus dem Wagen, telefonierte mit meiner Freundin und erklärte in kurzen Sätzen die Sachlage. Meine Mutter in Köln würde ich später von Eva aus benachrichtigen.
Jetzt, da ich Zeit genug hatte, betrachtete ich mir das Innere der Hütte etwas genauer. Es gab nur einen einzigen Raum, der sowohl als Schlaf- und Wohnbereich diente als auch zum Kochen. Am Fenster, durch das spärliches Licht herein fiel, stand der einzige, schon sehr ramponierte Sessel in diesem Häuschen. Ich bestand darauf, dass die alte Frau sich dorthin setzte, um sich auszuruhen. In einer Ecke befand sich ein ungemachtes Eisenbett, ohne Nachtkästchen. Am Fußende sah ich einen Kleiderschrank, der gewiss auch schon bessere Tage gesehen hatte. In der Mitte des Raumes stand ein viereckiger Tisch mit zwei wackligen Stühlen und an einer anderen Wand ein Steinbecken auf einem eisernen Untergestell, daneben der Holzofen, sicher für den kalten Winter bestimmt. Obendrauf war ein kleiner Kocher platziert, der mit Gaskartuschen betrieben wurde. Ein Regal bot Platz für das einzige Glas, den einzigen Teller und die einzige Tasse. Neben dem Ofen entdeckte ich einen alten Küchenschrank aus Großmutters Zeiten, in welchen ich nun die Lebensmittel einräumte. Salat, Möhren und Lauch legte ich in das Spülbecken. Ich ließ meinen Blick nochmals durch den Raum gleiten. So sauber sah es hier nicht aus. In einer Ecke fand ich einen Besen, eine Schaufel und einen Eimer nebst Putzlappen. Kurzerhand begann ich nun, den Holzboden zu fegen. Die alte Frau, die wie ein Häufchen Elend in dem Sessel hing, tat mir plötzlich unendlich leid, und ich wollte nicht eher fortgehen, bis sie wenigstens etwas gegessen hatte. Im Schrank entdeckte ich Reis und einige Würfel Fleischbrühe. Möhren und Lauch schnitt ich ganz klein. Ich fand sogar einen Topf und holte am Brunnen Wasser, dabei bemerkte ich auch das kleine Häuschen, wohl die Toilette.
Wie man einen Gaskocher bediente, wusste ich und schon eine halbe Stunde später war der Raum erfüllt von dem Duft der Reissuppe. Lore hatte mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet und mich gewähren lassen.
„Das war aber eine gute Suppe!“, lobte die alte Frau, nachdem sie zwei Teller davon verputzt hatte. Ich freute mich darüber sehr und lächelte ihr zu. „Nun essen Sie aber auch noch etwas davon“, forderte Lore mich auf. „Ich habe aber leider nur diesen einen Teller, bekomme ja sonst niemals Besuch. Waschen Sie ihn ab und essen Sie den Rest.“
Ich wollte nicht unhöflich sein und tat ihr den Gefallen. Ja, in der Tat, die Suppe schmeckte wirklich köstlich und ich merkte nun doch, dass ich hungrig war. Anschließend machte ich sogar noch den Abwasch, bevor ich mich dann endgültig verabschiedete. Die alte Frau schien sich nun bedeutend wohler zu fühlen. Ich versprach ihr, sie nach meiner Heimkehr öfter einmal zu besuchen. Lore lächelte nur dazu und schwieg. Sie begleitete mich sogar bis zum Auto und wieder fielen mir diese jugendlichen Augen in dem alten Gesicht auf. Ich fand dafür einfach keine Erklärung.
„Danke für Ihre Hilfe!“, sagte Lore noch einmal, bevor ich davonfuhr.
Am Abend desselben Tages saßen Eva und ich vor dem Fernsehapparat und wollten uns einen Film anschauen. Zuvor kamen noch die Nachrichten und eine Meldung, die uns das Blut in den Adern gefrieren ließ:
„Am Nachmittag entgleiste aus noch unerklärlichen Gründen der Interregioexpress 4114 auf gerader Strecke zwischen Hausach und Offenburg. Die beiden letzten Wagen der zweiten Klasse wurden dabei völlig aus den Schienen gehoben, vom übrigen Zug gelöst und sind einen Abhang hinuntergerutscht. Bei den bisherigen Rettungsmaßnahmen wurden schon zehn Passagiere tot und fünfzehn schwer verletzt geborgen.“
Wir saßen beide starr vor Schreck vor dem Apparat und blickten entsetzt auf die Bilder, die sich unseren Augen boten. Als die Kamera ganz nahe zu den beiden entgleisten Waggons schwenkte, konnte ich die Nummer eines der Wagen erkennen: 49. Mir wurde übel und ich rannte ins Bad, um mich zu übergeben. Die Tatsache, dass auch ich in diesem Unglückswagen gesessen hätte, wäre die alte Lore nicht dazwischen gekommen, ließ mich die folgende Nacht nicht zur Ruhe kommen. Ständig hatte ich die Bilder der Unglücksstelle vor Augen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert, als ich am Frühstückstisch erschien. Aus den Nachrichten erfuhren wir, dass es bei dem Zugunglück insgesamt dreißig Tote, mehr als 50 Schwerverletzte und etwa 30 Leichtverletzte gegeben hatte.
Ich wäre am liebsten nicht nach Köln zu Anjas Hochzeit gefahren, so sehr hatte mich dieser Unfall betroffen gemacht und bis ins Mark erschüttert. Auf Evas Rat hin fuhr ich schließlich doch, aber erst am nächsten Tag, da es mit den Aufräumarbeiten an der Unfallstelle nur langsam voranging.
Die Wiedersehensfreude mit Anja, der Verwandtschaft und den Freunden wurde durch dieses Zugunglück erheblich getrübt. Alle, besonders aber meine Mutter, trösteten mich immer wieder damit, wie viel Glück ich gehabt hatte. Doch so richtig in meine Lage versetzen konnte sich keiner.
Die zwei Wochen vergingen wie im Fluge und dann stand die Heimreise bevor. Wieder saß ich in einem Zug, mit gemischten Gefühlen und war froh, als ich unbeschadet in Singen ankam.
Tage später wollte ich mein Versprechen in die Tat umsetzen und die alte Lore in ihrer Waldhütte besuchen. Ich kaufte ein paar nützliche Dinge und einen warmen Schal, denn der nächste Winter kam bestimmt. Ich fand die Hütte auch mühelos, doch die alte Frau mit den jungen Augen war nicht daheim. Ob sie wohl wieder mit ihrem Leiterwagen zum Markt gegangen war? Sicher hatte ihn inzwischen jemand repariert. So setzte ich mich auf die Steinbank vor der Hütte und wartete. Nach etwa einer Viertelstunde hörte ich Hundegebell und kurz darauf beschnupperte ein hübscher Schäferhund meine Jeans.
„Lido, aus!“, rief eine Männerstimme und der Hund rannte sofort zu seinem Herrchen zurück, der sich mir nun näherte.
Der Mann, ich schätzte ihn auf etwa Siebzig, blieb kurz vor dem Hause stehen und fragte: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ist etwas mit Ihrem Auto?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, ich warte nur auf die Besitzerin dieser Hütte.“
„Besitzerin?“ Der Mann schaute mich entgeistert an.
„Hier wohnt schon seit einer Ewigkeit kein Mensch mehr. Die alte Hütte dient lediglich als Rastplatz und Unterschlupf bei Regen für Wanderer.“
„Das kann doch nicht sein!“, schoss es aus mir hervor.
„Ich habe doch erst vor wenigen Wochen eine alte Frau hier getroffen. Sie nannte sich Lore und hatte einen alten Leiterwagen, mit dem sie zum Markt …..“, ich stockte mitten im Satz, als ich das ungläubige Gesicht des Mannes sah. Er musste mich ja für verrückt halten, doch ich hatte die alte Frau gesehen.
„Lore? Nein, da müssen Sie sich irren, junge Frau.“
Der Mann machte urplötzlich ein nachdenkliches Gesicht.
„Nun ja, man sagt mir ein sehr gutes Gedächtnis nach. Die einzige Lore, an die ich mich erinnere, und die mal kurz hier wohnte, war die Tochter des Schmieds unten im Dorf. Aber die ist seit fast sechzig Jahren, können auch ein paar weniger gewesen sein, tot. Sie soll damals Schande über ihre Familie gebracht haben, weil sie behauptete, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Ich war damals noch ein Kind von elf Jahren, aber in einem so kleinen Nest sprach sich alles sehr rasch herum. Die Eltern haben Lore sozusagen davongejagt, und so soll sie dann einige Zeit in dieser Hütte gelebt haben. Dabei war sie ein wunderschönes Mädchen mit hellen, blauen Augen. Keiner wusste so genau, wie sie über die Runden kam, doch man erzählte hinter vorgehaltener Hand, sie würde zwischen Singen und Konstanz auf den Jahrmärkten als Hellseherin Geld verdienen. Dann sah man sie hin und wieder mit einem kleinen Leiterwagen.“
Ich hatte aufmerksam zugehört, doch mein Verstand arbeitete gerade sehr langsam.
„Aber das ist alles Vergangenheit und ich will Sie damit nicht länger belästigen. Vielleicht war die alte Frau nur zum Ausruhen hier?“, überlegte der Mann. „Das wäre doch eine Möglichkeit. Aber nun muss ich weiterziehen. Komm, Lido!“
„Noch eine Frage hätte ich. Wie starb diese Lore? Sie muss doch noch sehr jung gewesen sein.“
„Ja, das stimmt, so Mitte Zwanzig war sie, das genaue Alter weiß ich nicht genau. Sie soll sich in der Nähe von Singen direkt vor einen Zug geworfen haben. Diese Dampfloks waren zwar noch nicht so schnell wie die Züge heutzutage, aber sie soll sofort tot gewesen sein. Wurde lange darüber geredet bei uns im Dorf, das war schon fast eine Sensation in negativen Sinne. Warum sie das tat, erfuhr wohl niemand.“ Dann wandte er sich um und ging mit seinem Hund davon. Ich blieb betroffen zurück. „Vor einen Zug geworfen!“ schoss es mir durch den Sinn.
Ich stand auf und betrat die Hütte. Auf dem Eisenbett lagen ein paar Decken, säuberlich zusammengelegt. Auch der Boden war sauber und auf dem Tisch stand eine dicke Kerze. Das Regal über dem Spülbecken war leer, ebenso der Schrank, als ich in ihn blickte. Doch am Fenster stand der alte, schon in die Jahre gekommene Sessel. War es Einbildung, oder saß die alte Lore dort? Ich ging darauf zu, doch er war leer, aber ich glaubte plötzlich, eine Stimme zu hören:
„Dass Ihr jungen Leute alle so ruhelos seid, verstehe ich nicht. Was ist schon Zeit? Euer ganzes Leben richtet Ihr nach Plänen, macht nichts Unüberlegtes, alles nur nach Terminen und Vereinbarungen. Wo bleibt Eure Spontanität?“
In dem Augenblick, als ich von einer merkwürdigen Ahnung beschlichen wurde, fühlte ich, wie es mir heiß und kalt den Rücken hinunter lief. Ich wollte nur noch hinaus ins Freie, einen klaren Kopf bekommen. An der Tür jedoch drehte ich mich nochmals wie mechanisch um und sagte laut: „Lebe wohl, Lore, und danke, dass Du im entscheidenden Moment einfach da gewesen bist, um mein Leben zu retten. Die anderen Passagiere hatten leider keinen Schutzengel.“ Plötzlich verschleierten mir ein paar Tränen die Sicht, doch ich wischte sie nicht fort.
Engel! „Welch Absurdität!“ dachte ich im Nachhinein. Ich war doch ein realistisch denkender Mensch und Engel brachte ich lediglich mit Weihnachten in Verbindung. Und Einbildung? Nein, das war ganz bestimmt keine! Lore war da gewesen, ich hatte mir das nicht eingebildet. Für mich hatte sie Gestalt angenommen und war zu meinem Schutz erschienen.
Eine Weile blieb ich einfach nur still in meinem Wagen sitzen und ließ dieses Wunder auf mich einwirken. Nun bekam auch das einen Sinn, was meine Oma einst zu mir gesagt hatte, als Opa gestorben war und ich so sehr geweint hatte: „Nicht traurig sein, Kleines, er ist doch jetzt der Schutzengel irgendeines Menschleins auf Erden.“
Mit einem dicken Kloß im Hals fuhr ich den Feldweg entlang zurück zur Landstraße. Nach etwa fünf Minuten hielt ich am Straßenrand an, holte das Handy aus der Handtasche und wählte Evas Nummer. Als diese sich meldete, sagte ich: „Du, Eva, ich hatte gerade ein Erlebnis und muss mit Dir darüber reden.“
„Ich warte auf Dich, Ariane!“, lautete Evas spontane Antwort.