Prinzessin Goldhaar     

 

Vor vielen Jahren lebte fern von hier ein Königspaar, das fast alles besaß, was man sich denken konnte. Nur ein Kindlein war ihm bisher versagt geblieben. Eines Tages ging die Königin, wie schon so oft, wenn die Traurigkeit sie befiel, ohne ihre Hofdamen im Schlosspark spazieren. Dort setzte sie sich auf eine Bank und ließ ihren Tränen freien Lauf.

„Warum weint Ihr, Majestät?“, drang eine Stimme an ihr Ohr. Die Königin erschrak und hob verängstigt ihren Kopf. Durch einen Tränenschleier erblickte sie eine ärmlich gekleidete Gestalt, die man wirklich nicht als schön bezeichnen konnte.

„Ihr braucht Euch vor mir nicht zu fürchten“, sagte die Unbekannte, als sie die Angst in den Augen der Königin bemerkte.

„Was bedrückt Euch denn so sehr? Vielleicht weiß ich einen Rat gegen Euren Kummer.“
„Nein, mir kann niemand helfen“, entgegnete die Unglückliche und schüttelte ihr Haupt. „Mein Gemahl und ich warten schon viele Jahre auf ein Kind, doch dieser Wunsch wurde uns bisher nicht erfüllt. Bald bin ich zu alt, um noch Mutter werden zu können.“

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.
„Hm, was würdet Ihr sagen, wenn ich Euch dennoch helfen könnte?“, fragte die Fremde lauernd.
„Und wie?“, wollte die traurige Königin wissen und ein Funke Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf.
Nach einer kurzen Pause sprach die Frau mit leiser Stimme: „Ich könnte Euch einen magischen Kräutertrank zubereiten, und wenn Ihr mir vertrauen wollt, dann treffen wir uns morgen zur gleichen Zeit wieder hier.“

Als die Königin am nächsten Tag im Park erschien, war das Weib bereits da und überreichte ihr ein kleines Fläschchen mit den Worten: „Gebt davon zehn Tropfen in Euren Tee und den Eures Gatten. Im nächsten Jahr werdet Ihr ein Kindchen haben.“
Die Königin sah die andere Frau ungläubig an. „Ist das wirklich wahr?“, fragte sie zweifelnd.
„Gewiss, aber meine Hilfe ist nicht umsonst“, sprach die Fremde weiter. „Ich möchte dafür belohnt werden.“
Die Königin lächelte mit einem Male. „Wenn es weiter nichts ist. Ich besitze wertvollen Schmuck und gebe dir mit Freuden einige Stücke davon ab, wenn die Tropfen geholfen haben.“
„Nein, ich möchte kein Geschmeide, sondern Euer Töchterchen, wenn Ihr einer Prinzessin das Leben schenkt. An ihrem dreizehnten Geburtstag werde ich sie mir holen.“

Der Königin Antlitz war aschfahl geworden und sie sank vor Schreck auf eine Bank. Mit zitternder Stimme hauchte sie: „Mein Kind soll deine Belohnung sein? Das kannst du von mir nicht verlangen.“
Das unansehnliche Frauenzimmer lachte höhnisch.

„Ich schenke Euch und Eurem Gemahl dreizehn Jahre lang ein Kind, ist das nicht genug? Ohne meine Hilfe würdet Ihr niemals Eltern werden. Die Prinzessin soll es später gut bei mir haben, das verspreche ich. Wenn Ihr aber nicht wollt, dann nehme ich das Mittelchen wieder mit und Ihr bleibt weiterhin kinderlos.“


Das Weib wandte sich zum Gehen. Verzweifelt rief die Königin es zurück: „Nein, bitte bleibe! Vielleicht denkst du über mein Angebot noch einmal nach?“
Die Hässliche schüttelte energisch den Kopf.

„Nein! Ich will das Kind und gebe Euch drei Minuten Bedenkzeit.“
Die Königin überlegte fieberhaft. Was sollte sie tun? Dieser Person ihr zukünftiges Kind geben? Niemals würde sie das über ihr Herz bringen. Doch die Sehnsucht nach einem Baby war stärker als alles andere. Plötzlich dachte sie: „Diese Frau will meine Tochter, wenn ich aber einen Prinzen bekomme, muss ich mein Versprechen nicht halten. Wer weiß schon, was in so vielen Jahren sein wird? Vielleicht hat die Unbekannte uns bis dahin längst vergessen.“
„Gut, ich bin einverstanden“, sagte sie daher und hielt kurz darauf das Wunderfläschchen in der Hand.
„Vergesst unsere Abmachung nicht, Königin. Am dreizehnten Geburtstag Eurer Tochter, genau zur Geburtsstunde, bin ich hier und nehme meine Belohnung in Empfang.“

Daraufhin verschwand das Weib.

Noch am gleichen Abend vor dem Schlafengehen gab die Königin das Elixier in den Tee und betete im Stillen, dass bald ein kleiner Prinz in der Wiege liegen möge. Viele Monate später gebar sie jedoch eine Prinzessin. Und weil diese mit winzigen goldenen Löckchen zur Welt kam, wurde sie Goldhaar genannt.

Das liebreizende Mädchen wuchs heran und wurde bald von Jedermann im Königreich ins Herz geschlossen. Seine Schönheit und Herzenswärme wurden von Jahr zu Jahr größer. Es liebte alle Blumen und Tiere unter dem Himmelszelt, sang gerne und hatte für jeden Menschen ein freundliches Wort übrig. Besonders den kranken Kindern und Tieren galt Goldhaars Fürsorge und Hilfe.

Der dreizehnte Geburtstag der Prinzessin rückte näher und mit jedem Tag wurde die Königin unruhiger.
„Was ist mit dir?“, fragte der König besorgt und da konnte seine Gemahlin nicht länger schweigen. Sie erzählte ihm von der Begegnung im Park und den Tropfen, die den Kinderwunsch erst erfüllten. Tränen standen in den Augen der Königin, als sie hinzufügte: „Ich tat es doch nur, weil wir uns so sehr nach einem Kind sehnten. Jetzt habe ich Angst, dass jene Frau an unsere Vereinbarung denkt. Dann wird sie Goldhaar holen.“
„Mama! Ist das wirklich wahr, was du erzählt hast?“
Das königliche Elternpaar schaute erschrocken zur Tür, wo die Prinzessin mit schreckensbleichem Gesicht stand. Sie hatte alles gehört.
Die Mutter brachte nur ein Nicken zustande, weil sie vom Weinen heftig geschüttelt wurde.  
„Wenn wir nur einen Rat wüssten, aus diesem Versprechen wieder herauszukommen.“ Der König senkte traurig den Kopf und Goldhaar trat zu den Eltern.

„Ihr habt mich gelehrt, ein gegebenes Versprechen zu halten. Es bricht mir das Herz, euch zu verlassen, aber wenn jene Unbekannte sich an die Abmachung erinnert, muss ich wohl mit ihr gehen.“
Die Königin nahm ihre Tochter in die Arme.

„Unsere Liebe zu dir wird niemals enden, auch wenn du fern von hier bist. Vergiss uns niemals.“
„Ich werde meine wunderbaren Eltern nie vergessen“, versprach Goldhaar. Tränen hingen an ihren seidigen Wimpern.

Am Geburtstag der Prinzessin, genau zur Geburtsstunde, lauerte das Weib im Park. „Es ist sehr klug von Euch, dass Ihr gekommen seid“, sprach es und nahm sofort Goldhaars Hand.

„Eine schöne Prinzessin bist du geworden und jetzt komm. Ich verachte Abschiedsgejammer, außerdem haben wir noch einen weiten Weg vor uns.“
Goldhaar wollte sich aus dem harten Griff der Frau befreien, doch die Alte hielt sie zu fest.
„Leb wohl mein Kind!“, rief die Königin mit tränenerstickter Stimme, als die Fremde eilig davonging und das Mädchen unsanft hinter sich herzog.

„Meine Füße schmerzen, können wir nicht eine kleine Rast einlegen?“, fragte Goldhaar nach einer Weile strengen Marsches.
„Ans Laufen wirst du dich in Zukunft gewöhnen müssen. Ich habe leider keine Kutsche.“

Die Frau lachte gehässig und zog das Mädchen grob weiter.
Als Goldhaar über eine Wurzel stolperte und sich bei dem Sturz das Knie aufschürfte, hielt die boshafte Person endlich an. Sie sah ein paar Tränen in den schönen Kinderaugen und ihre Miene verfinsterte sich.

„Du wirst viel lernen müssen, Prinzessin. Bei mir wird nicht gejammert, sondern gearbeitet. Damals habe ich nur an meine eigene Zukunft gedacht, als ich deiner Mutter mit meinem Zaubertrank half. Ich brauchte jemanden, der meine Arbeit macht und wartete dreizehn Jahre darauf. Nun kann ich mich ganz meiner Hexerei widmen.“
Ein schrilles Lachen dröhnte in Goldhaars Ohren, als sie in das hässliche Gesicht der Alten blickte. „Du bist eine Hexe?“, entfuhr es ihr.
„Ja, du bist ein kluges Kind. Und jetzt steh endlich auf, damit wir weiterkommen.“

Für Goldhaar begann eine schlimme Zeit. Sie musste das Haus der Hexe putzen, Kochen und Nähen erlernen. Wäsche waschen, Kräuter, Wurzeln und Feuerholz sammeln. Essen durfte sie das, was die Hexe übrig ließ. Abends sank das Mädchen todmüde auf ein Strohlager in der Küche.
So waren im Laufe der Jahre Goldhaars Hände von der harten Arbeit rau und rissig geworden und ihr Gesicht immer blasser. Dunkle Ringe lagen um ihre Augen, die niemals mehr strahlten. Ihr einstmals goldenes Haar hatte seinen Glanz verloren. Stumpf und filzig umrahmte es ihr trauriges Antlitz. Ihr Mund brachte schon lange kein Lächeln mehr zustande.

Als die Maid eines Tages wieder einmal im Wald zum Holzsammeln war, befiel sie, wie schon so oft, eine tiefe Traurigkeit. Sie hatte Sehnsucht nach den Eltern und ihrem Zuhause. Tränen schimmerten in ihren Augen. Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und eine Stimme fragte: „Was ist geschehen, Mädchen? Warum weinst du so?“
Es war eine sanfte Stimme, die Goldhaar bis ins Herz drang. Sie wandte sich um und sah einen stattlichen Jüngling hoch zu Ross. Goldhaar bemerkte wohl seinen erschrockenen Gesichtsausdruck bei ihrem Anblick und senkte den Kopf.

„Was kümmert Euch mein Wohlergehen?“, fragte sie leise und wandte sich wieder dem Korb mit dem Feuerholz zu. Gerade wollte sie ihn aufheben, da sprang der Bursche vom Pferd. „Das ist doch viel zu schwer für dich. Lass ihn mich tragen.“
Goldhaar ließ es geschehen. Kurz vor dem Haus der Hexe jedoch blieb sie stehen. „Den Rest des Weges möchte ich allein gehen. Bitte, folgt mir nicht.“

Der junge Reitersmann wollte etwas entgegnen, doch der Blick aus den Augen des Mädchens ließ ihn gehorchen.

Am Abend stand die Prinzessin zum ersten Mal seit langer Zeit vor dem Spiegel und betrachtete sich. Wie hässlich sie geworden war! Sie dachte mit klopfendem Herz an den Jüngling zu Pferd und verstand nicht, warum er gerade ihr geholfen und mit ihr geredet hatte.
„Scher dich an den Herd und koche, faules Ding!“, keifte hinter ihr die Alte. Goldhaar zuckte unter dieser Stimme zusammen.
„Was schaust du überhaupt in den Spiegel, hä? In einer halben Stunde will ich essen!“
Goldhaar senkte den Blick und ging zur Kochstelle.

Täglich kam nun der schmucke Herr in den Wald geritten und unterhielt sich mit der scheuen Maid, die ihm seit der ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie war nicht hübsch, doch ihr Wesen und der Blick aus den blauen Augen rührten ihn sehr. Jedes Mal, kurz vor dem Hexenhaus, bat sie ihn, kehrtzumachen. Das gefiel dem Mann immer weniger und eines Tages folgte er ihr heimlich. Das Mädchen hatte gerade die Tür erreicht, als diese aufgerissen wurde und eine hässliche Alte heraustrat. „Wo bleibst du so lange, du nichtsnutziges Ding? Seit Tagen kommst du so spät heim.“
Das Teufelsweib ergriff den Besen, der neben der Hütte stand und wollte Goldhaar damit ins Haus scheuchen, als eine laute Stimme sie sogleich innehalten ließ.
„Halt!“

Der Jüngling kam eiligen Schrittes auf die Hexe zu. Als sie ihn erblickte, wurde ihr Gesicht bleich vor Schreck und sie schrie: „Nein! Was wollt Ihr hier? Tut mir nichts!“ Dann drehte sie sich um und rannte, so schnell es ihre Beine zuließen, davon.

Goldhaar schaute den Mann verständnislos an, doch er lächelte nur und sagte: „Diese Person wird dir nichts mehr tun. Ich kenne sie. Einst war sie Hofdame auf unserem Schloss und stellte heimlich Zaubertränke her. Damit wollte sie meine Mutter vergiften, um selbst als Königin an der Seite meines Vaters zu regieren. Er bemerkte es zum Glück noch rechtzeitig und verbannte die Hexe aus dem Schloss. Ich war damals noch ein Knabe. Weil ich aber heute meinem Vater sehr ähnlich sehe, erschrak diese Frau wohl bei meinem Anblick.“

Kaum hatte der Prinz zu Ende gesprochen, da erhellte ein erlösendes Lächeln Goldhaars Antlitz.
„Ihr habt mich gerettet. Meine Eltern werden Euch das niemals vergessen.“

Und nun erzählte das Mädchen von seiner Herkunft und wie dieses Weib Gewalt über es bekommen hatte.

„Goldhaar“, sagte der Prinz, als die Prinzessin ihm ihren Namen nannte. „Ich habe mich schon in dich verliebt, als ich dich noch für ein armes, unscheinbares Geschöpf hielt. Willst du meine Frau werden und mit auf mein Schloss kommen?“
„Ja, das will ich“, antwortete die Königstochter.


Die Freude war groß, als die Eltern ihr Kind wieder in die Arme schließen konnten. Sie bedankten sich bei dem Prinzen für Goldhaars Rettung und vier Wochen später feierte das Paar eine prächtige Hochzeit, zu der das ganze Königreich eingeladen wurde.

Durch die Liebe ihres Gemahls erblühte die junge Frau bald wieder zu ihrer einstigen Schönheit.

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